Staatsrechtliche Beurteilung der neuen Verträge zwischen der Schweiz und der EU: Eine Analyse der Argumentation von Prof. em. Dr. iur. Paul Richli
Fachbericht von Douana.ch, basierend auf dem Vortrag von Prof. em. Dr. iur. Paul Richli am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP), Universität Luzern.
Einleitung
Die bilateralen Verträge sind wichtig für die Schweiz. Dennoch ist es wichtig, die Verträge korrekt zu beurteilen, bevor es an die Urne geht. Dieser Fachbericht analysiert die staatsrechtliche Beurteilung der neuen Vertragsbeziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU), bekannt als das "Paket Schweiz-EU" (Stand Juni 2025), basierend auf der Argumentation von Prof. em. Dr. iur. Paul Richli, ehemaliger Rektor der Universität Luzern und ausgewiesener Staatsrechtler [1]. Die Analyse konzentriert sich auf die zentralen staatsrechtlichen Implikationen, insbesondere den Transfer von Hoheitsrechten, die Auswirkungen auf die demokratische Legitimität und die staatliche Souveränität der Schweiz.
Der Paradigmenwechsel in den Schweiz-EU-Beziehungen
Prof. Richli konstatiert einen fundamentalen
Paradigmenwechsel in der vertraglichen Ausgestaltung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Während frühere Abkommen, wie das Freihandelsabkommen von 1972 (FH 72) und die Bilateralen I, primär auf der
gegenseitigen Anerkennung und dem
konsensualen Handeln basierten, führen die neuen Verträge zu einer
institutionellen Verzahnung und einer
dynamischen Rechtsübernahme [1].
Ein zentraler Unterschied liegt in der Zielsetzung und der Entscheidungsfindung. Im FH 72 war der Gemischte Ausschuss auf das
gegenseitige Einvernehmen angewiesen, was der Schweiz eine gleichberechtigte Mitsprache und Blockademöglichkeit sicherte. Die neuen Abkommen hingegen sehen eine Unterstellung unter EU-Rechtsvorschriften vor, was sich beispielsweise im Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (MRA) manifestiert: Die Zertifizierung von Produkten muss nun in Übereinstimmung mit den
Rechtsvorschriften der Europäischen Union erfolgen, nicht mehr mit den Schweizer Rechtsvorschriften [1].
Die folgende Tabelle fasst die wesentlichen Unterschiede zwischen den alten und den neuen Vertragstypen zusammen:
Tabelle: Vergleich der Vertragstypen (Alte vs. Neue Abkommen)
| Kriterium |
Freihandelsabkommen 1972 (FH 72) / Bilaterale I (Alt) |
"Paket Schweiz-EU" (Neu) |
| Rechtsgrundlage |
Gegenseitige Anerkennung (z.B. von Zertifizierungen) |
Dynamische Rechtsübernahme (Rechtsnachvollzug) |
| Massgebendes Recht |
Schweizer Recht (mit Angleichungsfreiheit) |
EU-Rechtsvorschriften (massgebend für Zertifizierung) |
| Entscheidungsfindung |
Gemischter Ausschuss: Einstimmigkeit (gegenseitiges Einvernehmen) |
Institutionelles Protokoll: Beschränkung des Stimmrechts |
| Sanktionen |
Beschränkung auf den jeweiligen Abkommensbereich |
Ausgleichsmassnahmen auch in anderen Abkommen möglich |
| Staatsrechtliche Einordnung |
Typisches bilaterales Abkommen |
Institutionelle Verzahnung, Transfer von Hoheitsrechten |
Staatsrechtliche Beurteilung und Verfassungsfragen
Prof. Richli argumentiert, dass die neuen Verträge weitreichende staatsrechtliche Konsequenzen haben, die über eine blosse Anpassung des Gesetzesrechts hinausgehen.
Materielle Verfassungsänderung und Willkürverbot
Die neuen Abkommen stellen nach Richli eine
materielle Verfassungsänderung dar, da sie den
Kernbestand der staatlichen Souveränität betreffen [1]. Die Abgabe von Hoheitsrechten an eine supranationale Organisation tangiert die demokratische Legitimität und die grundlegende Struktur des Rechtsstaates.
Darüber hinaus sieht Richli in der Sanktionslogik der neuen Verträge eine
Verfassungsverletzung, insbesondere des
Willkürverbots der Bundesverfassung (BV). Die EU behält sich das Recht vor, bei Verstössen gegen ein Abkommen
Ausgleichsmassnahmen zu treffen, die sich nicht nur auf das verletzte Abkommen, sondern auch auf
andere Abkommen erstrecken können [1].
"Willkür liegt vor, wenn in gesetzlichen Regelungen Massnahmen getroffen werden, die keinen sachlichen Zusammenhang haben. [...] Man muss eigentlich im Rechtsbereich bleiben, der nun zur Diskussion steht, und darf nicht da ausweichen auf alle anderen Bereiche, die keinen sachlichen Zusammenhang haben." [1]
Die Möglichkeit, Sanktionen in sachfremden Bereichen zu verhängen, wird als willkürlich und damit als Verfassungsverletzung eingestuft.
Die Krise der demokratischen Legitimität
Die vertragliche Verflechtung führt zu einer faktischen
Beschränkung des Stimmrechts der Schweizer Bürger. Die Stimmbürger können nicht mehr frei über die Ablehnung von EU-Bestimmungen entscheiden, ohne sich der Konsequenz von Ausgleichsmassnahmen in anderen, möglicherweise vitalen, Sektoren bewusst zu sein [1].
In diesem Zusammenhang wird das Konzept der
"Politikverflechtungsfalle" des deutschen Politikwissenschaftlers Fritz W. Scharpf herangezogen [1]. Diese Falle beschreibt einen Zustand, in dem verschiedene staatliche Akteure institutionell verzahnt sind, aber die Verantwortlichkeiten unklar bleiben. Die Folge ist eine
negative Entscheidungslogik, bei der Reformen am Widerstand von Partikularinteressen scheitern und es zu einer
Entscheidungsunfähigkeit kommt. Dies belastet die
demokratische Legitimität und führt zu einem Verlust staatlicher Handlungsfähigkeit [1].
Kernbegriffe und staatsrechtliche Implikationen
| Kernbegriff |
Definition/Kontext (Richli/Scharpf) |
Staatsrechtliche Implikation |
| Hoheitsrechte |
Kernbestand der staatlichen Souveränität und demokratischen Legitimität. |
Transfer an die EU durch dynamische Rechtsübernahme. |
| Dynamische Rechtsübernahme |
Aktueller und zukünftiger Nachvollzug von EU-Recht. |
Rechtsunsicherheit und Unterstellung unter "fremde Richter". |
| Politikverflechtungsfalle |
Institutionelle Verzahnung, bei der alle mitreden, aber niemand Verantwortung übernimmt. |
Verlust der Handlungsfähigkeit des Staates und Krise der Legitimität. |
| Ausgleichsmassnahmen |
Sanktionen der EU bei Verstössen gegen Protokolle, auch in anderen Abkommen. |
Verletzung des Willkürverbots (BV) und faktische Beschränkung des Stimmrechts. |
Schlussfolgerung
Die staatsrechtliche Analyse von Prof. Richli kommt zu dem Schluss, dass die neuen Verträge mit der EU eine tiefgreifende Veränderung der schweizerischen Staatsstruktur und ihrer demokratischen Prozesse bedeuten. Der Übergang von einem bilateralen Verhältnis der gegenseitigen Anerkennung zu einer institutionellen Verzahnung mit dynamischer Rechtsübernahme und der Möglichkeit sachfremder Sanktionen führt zu einer
institutionellen Abhängigkeit. Diese Abhängigkeit gefährdet die
staatliche Souveränität und die
demokratische Handlungsfähigkeit der Schweiz, indem sie das Stimmrecht faktisch beschränkt und das verfassungsrechtliche Willkürverbot verletzt [1].
Quellenverzeichnis
[1] Richli, Paul (Prof. em. Dr. iur.).
Die Verträge mit der EU: eine staatsrechtliche Beurteilung. Vortrag am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP), Universität Luzern. Abrufbar unter:
https://youtu.be/013u8Qf2wvo