Annex II ist das Herzstück des US-Zollsystems unter dem neuen Reciprocal-Tariff-Regime. Diese Liste bestimmt, welche Waren von den pauschalen Zollaufschlägen befreit sind. Mit den Änderungen im November 2025 wurde sie erneut angepasst – und damit entscheidend für die Kostenplanung internationaler Handelsunternehmen.
Die komplette Anleitung zu Ausnahmeregelungen, November-Updates und strategischen Implikationen für Exporteure und Importeure
Annex II USA 2025: Zollbefreiungen für Reciprocal Tariffs verstehen und richtig nutzen
Annex II USA 2025: Zollbefreiungen für Reciprocal Tariffs verstehen und richtig nutzen
Das Reciprocal-Tariff-System und die Rolle von Annex II
Die Vereinigten Staaten haben mit der Einführung der Reciprocal Tariffs ein flexibles Zollregime geschaffen, das sich nicht an starre Importquoten bindet, sondern direkt an die Marktöffnung anderer Länder koppelt. Dieses System wurde zunächst durch die Executive Order 14257 vom 2. April 2025 etabliert und seither mehrfach überarbeitet. Im Kern funktioniert das System nach folgendem Prinzip: Länder, die ihre Märkte für US-Produkte nur eingeschränkt öffnen, zahlen höhere Importzölle in die USA. Länder mit fairen Handelsbedingungen oder abgeschlossenen Handelsabkommen erhalten niedrigere oder gar keine zusätzlichen Aufschläge.Annex II bildet die Ausnahmeliste. Hier sind alle Harmonized Tariff Schedule (HTSUS)-Codes aufgeführt, die vom Reciprocal-Tariff-Aufschlag befreit sind. Diese Waren werden also nicht mit den neuen pauschalen Zusatzzöllen belastet, sondern folgen weiterhin dem regulären Zollsatz (Most Favored Nation, MFN).Die strategische Bedeutung liegt auf der Hand: Ob ein Produkt in Annex II gelistet ist oder nicht, entscheidet oft darüber, ob ein Importer konkurrenzfähig bleibt oder seine Margen unter Druck geraten. Die Aufnahme in Annex II signalisiert der Industrie zudem, welche Sektoren und Rohstoffe die US-Regierung als kritisch oder versorgungssicherheitsrelevant einstuft.
Welche Waren stehen aktuell auf Annex II
Annex II umfasst heute eine breite Palette von Produkten, die über mehrere Executive Orders hinweg zusammengestellt wurden. Den Anfang machte die Fassung vom 2. April 2025, die später am 5. September und abermals im November 2025 angepasst wurde. Zu den traditionellen Ausnahmen gehören Waren, die entweder unter laufende Section-232-Ermittlungen fallen oder als kritisch für die nationale Sicherheit und Versorgung gelten:Kernkategorien in Annex II
- Halbleiter und integrierte Schaltkreise aus verschiedenen Kapiteln der HTSUS
- Graphit und andere kritische Mineralien (Nickel, Zinn, Thorium-Erze)
- Pharmazeutische Wirkstoffe und Chemikalien
- Spezialmaterialien wie Permanentmagnete und LED-Komponenten
- Elektrische und elektronische Komponenten
- Holz- und Forstwirtschaftsprodukte
- Landwirtschaftliche Rohstoffe in bestimmten Kategorien
Die November-2025-Anpassungen: Was hat sich geändert
Im November 2025 erlebte Annex II eine erneute Überarbeitung, die über rein technische Harmonisierungen hinausging. Die Regierung führte substanzielle Erweiterungen durch, die das System neu kalibrieren.Agrarsector-Expansion
Zum ersten Mal wurden in nennenswertem Umfang Agrarprodukte in Annex II aufgenommen. Dies war nicht zufällig, sondern Teil von Verhandlungen mit grossen Agrarexporteuren wie Brasilien, Argentinien und anderen südamerikanischen Ländern. Konkret betroffen sind Fleischprodukte, Kaffee, Tee, tropische Früchte, Fruchtsäfte und ausgewählte Düngemittel. Für diese Waren bedeutet das unmittelbar: Sie werden zu MFN-Sätzen statt mit Reciprocal-Aufschlägen importiert, was Preise senkt und Lieferketten stabilisiert.Präzisierungen und technische Harmonisierung
Viele NESOI-Kategorien (NESOI) wurden geklärt und Unterpositionen präzisiert. Das klingt technisch, hat aber praktische Auswirkungen: Importeure haben nun klarere Richtlinien bei der Einstufung ähnlicher Produkte und Grenzfälle.Bestätigung von High-Tech und Rohstoffen
Die Regierung machte deutlich, dass Halbleiter, kritische Mineralien und spezialisierte Materialien trotz aller politischen Diskussionen weiterhin befreit bleiben. Dies unterstützt die Halbleiterindustrie und Lieferketten für grüne Technologien. Diese Änderungen sind nicht abgeschlossen. Die Tatsache, dass Annex II schon dreimal in einem Jahr überarbeitet wurde, zeigt, dass die Regierung das Instrument aktiv nutzt, um auf neue Verhandlungsergebnisse oder geopolitische Entwicklungen zu reagieren. Unternehmen müssen daher davon ausgehen, dass weitere Anpassungen folgen werden.HTSUS-Klassifikation: Der kritische Erfolgsfaktor
Der entscheidende Punkt ist oft übersehen, aber zentral: Annex II schützt nicht automatisch alle Produkte einer Kategorie. Der Schutz gilt nur für Waren, die unter die exakt aufgeführten HTSUS-Codes fallen. Die HTSUS (Harmonized Tariff Schedule of the United States) ist ein zehnteiliges Klassifikationssystem. Ein Produkt kann unter verschiedenen Codes eingeordnet werden, je nachdem, wie es zusammengesetzt ist, wie es verarbeitet wurde oder welche Funktion es erfüllt.Praktisches Beispiel
Ein reiner Graphit-Kristall kann unter mehreren Positionen fallen – je nachdem, ob er als Rohstoff, als Verarbeitungsmaterial oder als Komponente klassifiziert wird. Nur wenn der genaue Code auf Annex II gelistet ist, ist die Ware befreit. Ein falsch klassifizierter Import könnte plötzlich 15 % Aufschlag kosten, statt befreit zu sein.Einflussfaktoren auf die Klassifizierung
- Materialzusammensetzung: Rein oder gemischt?
- Verarbeitungsgrad: Rohstoff, Halbfabrikat oder Fertigprodukt?
- Funktionale Zweckbestimmung: Wofür ist das Produkt gedacht?
- Herkunftsangaben: Besonderheiten nach Ursprung oder Verfahren?
Importeure und Exporteure sollten deshalb ihre Zollklassifikation regelmässig durch spezialisierte Zollberater überprüfen lassen. Die Kosten für eine genaue Klassifizierung sind gering im Vergleich zu rückwirkend anfallenden Strafzöllen oder Verwaltungsstrafen.
Praktische Checkliste: Ist Ihr Produkt in Annex II befreit
Um schnell zu klären, ob ein Produkt von Annex II profitiert, sollten Unternehmen folgende Schritte in dieser Reihenfolge durcharbeiten:Schritt 1: Genaue HTSUS-Bestimmung
Das ist das Fundament. Der HTSUS-Code muss auf Basis der internationalen Nomenklatur (HS-Code) und der US-spezifischen Definitionen eindeutig bestimmt werden. Viele Zollbehörden bieten Vorab-Klassifizierungsbescheinigungen (Advanced Rulings) an, die Rechtssicherheit bieten.Schritt 2: Abgleich mit der offiziellen Annex-II-Liste
Das aktuelle Annex-II-Dokument (zuletzt vom Weissen Haus im September und November 2025 veröffentlicht) muss herangezogen werden. Wichtig: Auch Fussnoten, Ausschlüsse und Unterpositionen (achtstellige oder zehnstellige Codes) prüfen. Ein fünfstelliger Code in Annex II bedeutet nicht automatisch, dass alle Unterpositionen befreit sind.Schritt 3: Produktkategorie überprüfen
Ist das Produkt eines der bekannten Kategorien, die typischerweise befreit sind? Halbleiter und elektronische Komponenten haben hohe Chancen, kritische Mineralien auch (sofern Rohmaterial oder wenig verarbeitet), Pharmaprodukte ebenso. Seit November auch bestimmte Agrarprodukte. Umgekehrt: Konsumgüter, fertige Elektronik oder Mischprodukte sind eher nicht befreit.Schritt 4: Gemische und Zubereitungen separat prüfen
Mischprodukte sind die Grauzone. Wenn das Produkt aus mehreren Komponenten oder Rohstoffen besteht, fällt es oft unter einen anderen HTSUS-Code als die Einzelkomponenten. Nicht selten: Die Komponente wäre befreit, aber das fertige Gemisch nicht.Schritt 5: Aktualität überprüfen
Hat sich etwas seit dem letzten Import geändert? Executive Orders können jederzeit aktualisiert werden. Ein Produkt, das letzten Monat befreit war, könnte heute auf der Streichungsliste stehen (wie bei den Silikon- und Harzprodukten im September 2025 geschehen).Gesamtbewertung
Wenn alle fünf Schritte positiv ausfallen, ist eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben, dass das Produkt Annex-II-berechtigt ist. Fallen einzelne Schritte negativ aus, besteht erhebliches Risiko, dass der Reciprocal Tariff fällig wird. Beste Praxis ist es, diese Überprüfung dokumentiert festzuhalten und das Ergebnis den Zollbehörden bei der Importabfertigung mitzuteilen. Transparenz reduziert das Risiko von späteren Nachforderungen.Strategische Implikationen für Unternehmen und Lieferketten
Annex II ist längst nicht nur ein technisches Zollinstrument. Es ist ein politisches Steuerungsmittel, das tiefgreifende wirtschaftliche Auswirkungen hat.Versorgungssicherheit und geopolitische Signale
Welche Produkte in Annex II gelistet sind, zeigt, wo die US-Regierung Versorgungsengpässe sieht und wo sie Sicherheit priorisiert. Kritische Mineralien für Batterien und grüne Technologien sind geschützt – ein Signal für die Elektromobilitätsindustrie. Agrarprodukte wurden neu aufgenommen – ein Signal für Preisdämpfung und Verhandlungserfolge mit grossen Agrarexportern. Halbzeugkupfer bleibt befreit – ein Schutz für Elektrokabel- und Elektrogeräteindustrien. Umgekehrt: Die Streichung von Silikonen und Harzen im September war ein bewusstes Signal, diese Sektoren stärkerem Wettbewerb auszusetzen oder Druck auf Partnerländer auszuüben, mit denen kein Abkommen besteht.Standortentscheidungen und Sourcing-Strategien
Für Importeure und Produzenten entstehen Anreize, Lieferquellen zu verschieben. Ein Unternehmen, das Graphit aus einem „alignierten" Handelspartner (z. B. einem Land mit bestehendem Abkommen) bezieht, kann mit stabilen Kosten rechnen. Wer aus einem Land ohne Abkommen importiert, sieht sich potenziellem Druck ausgesetzt. Langfristig führt das zu Neuausrichtung globaler Lieferketten. Alternativ können Unternehmen versuchen, Verarbeitungsschritte zu verlegen – von einem bestraften Land in ein begünstigtes. Das ist eine Form von Zollplanung, die viele grosse Konzerne systematisch betreiben.Wettbewerb und Marktverzerrung
Unternehmen, deren Rohstoffe in Annex II stehen, haben niedrigere Inputkosten als Wettbewerber ohne Befreiung. Das verschafft ihnen einen direkten Kostenvorsprung von bis zu 15 % (dem typischen Reciprocal-Tariff-Satz). Bei Produkten mit geringen Gewinnmargen (wie Standard-Elektronik) kann das über Sieg oder Niederlage auf dem Markt entscheiden.Diplomatische Signale und Handelsdynamik
Annex II ist auch ein Verhandlungsinstrument. Länder, die Handelsabkommen mit den USA abschliessen, sehen, dass bestimmte Produkte in Annex II aufgenommen werden. Das schafft Anreize für Verhandlungen. Umgekehrt: Länder, mit denen es Spannungen gibt, können damit rechnen, dass ihre Produkte von Annex II entfernt werden.Damit verbunden: Das System ist hochdynamisch und wenig vorhersehbar für Unternehmen, die nicht kontinuierlich monitoren. Wer in Vorratswirtschaft investiert oder langfristige Lieferverträge abschliesst, setzt sich Risiken aus, wenn Annex II sich ändert.
Monitoring und Zukunftsaussichten: Was kommt als nächstes
Die Geschichte von Annex II seit April 2025 zeigt ein Muster: Die Liste wird aktiv gestaltet und regelmässig überarbeitet. Unternehmen sollten daher von weiteren Änderungen ausgehen.Bisherige Update-Frequenz
Wahrscheinliche Anpassungsszenarien
Künftige Entwicklungsszenarien
- Weitere Handelsabkommen: Jedes neue Abkommen (z. B. mit Grossbritannien, Japan oder anderen Ländern) könnte zu zusätzlichen Annex-II-Erweiterungen führen.
- Geopolitische Entwicklungen: Bei Verschärfung von Spannungen mit bestimmten Ländern könnten deren Produkte von Annex II entfernt werden.
- Section-232-Entscheidungen: Wenn Section-232-Ermittlungen (zu Sicherheitsthemen) abgeschlossen sind, können damit verbundene Befreiungen auslaufen oder sich ändern.
- Inflationäre oder deflationäre Tendenzen: Sollten sich Preise schnell bewegen, könnte die Regierung durch Annex-II-Erweiterungen oder -Reduktionen stabilisierend oder regulierend eingreifen.
Monitoring-Best-Practices
Unternehmen sollten:- Automatisierte Alerts für neue Executive Orders und Zollmitteilungen einrichten. Zollbehörden und Handelsverbände versenden Meldungen.
- Regelmässige Klassifikationsprüfungen durchführen – mindestens vierteljährlich.
- Externe Zollberater konsultieren, die Änderungen schneller erkennen und bewerten können.
- Szenarien durchspielen: Was passiert, wenn unser Produkt morgen von Annex II gestrichen wird? Wie würde sich das auf Margen und Wettbewerbsfähigkeit auswirken?
- Lieferketten diversifizieren: Abhängigkeit von Ländern oder Produkten mit hohem Annex-II-Risiko reduzieren.
- Verhandlungen mit Kunden antizipieren: Wenn Zölle steigen, wie können Preiserhöhungen kommuniziert werden?
Ausblick
Das Reciprocal-Tariff-System wird das neue US-Zollregime für die nächsten Jahre prägen. Annex II wird dabei das zentrale Steuerungsinstrument bleiben. Unternehmen, die sich frühzeitig damit auseinandersetzen, sich korrekt klassifizieren und kontinuierlich monitoren, erhalten einen deutlichen Wettbewerbsvorteil. Wer das vernachlässigt, riskiert unerwartete Kostenexplosionen und Lieferkettenstörungen. In einem volatilen Zollumfeld ist Annex-II-Compliance nicht optional – sie ist eine strategische Notwendigkeit.Annex II als Wettbewerbsvorteil in einer volatilen Zolllandschaft
Annex II ist weit mehr als eine technische Zolltabelle. Es ist ein strategisches Instrument, das über Rentabilität, Lieferketten und Marktzugang entscheidet. Unternehmen, die ihre HTSUS-Klassifikationen regelmässig abgleichen und Änderungen sofort erfassen, sichern sich erhebliche Kostenersparnisse und bleiben wettbewerbsfähig in einem zunehmend fragmentierten Zollumfeld.